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Der Goldtopf



„Und, pas de bourrée.“

Mir schmorten die Füße.

„Nein, Yamila. Nein, Yoko. Das war nicht sauber. Ihr zwei noch einmal allein. Ohne die anderen.“

Patrick Relmin, fünfundziebzig Jahre, Handwerkersohn, Schuster.

Erste Revolution: Tänzer, verheiratet und zwei Kinder.

Zweite Revolution: Scheidung, die Liebe zu Männern entdeckt und gelebt.

Als Trainer beim Kinderballett genauso beliebt wie bei der Tanzgruppe der Ü40, daneben Choreograph für OpenAirAufführungen.

Seit einer Stunde probten wir, mein Körper protestierte vor Schmerzen. Der hochsommerlich temperierte Ballettsaal ließ Rinnsale über mich laufen.

Was hatte ich mir dabei gedacht?

Wieso war ich seit meiner Kindheit von amerikanischen Filmen besessen?

Von Tanzfilmen aus den 50igern insbesondere?

War Fan von Frank Sinatra und Gene Kelly?

Wieso hielt ich das Steppen nochmal für die Königsdisziplin im Tanzen?

Keine Zeit nachzudenken. Morgen war unser Auftritt.

Wir wiederholten unsere Schritte.

Treppe, Vierer, gesteppter Dreier, geschlagener Dreier, großer Broadway, Pas de Bourrée.

Wieder und wieder.

Danach Triole, Elfer, Fünfer, Vierer, Fünfer, Vierer.

„Das genügt. Kleine Pause.“

Endlich.

Ich stürmte zu den hohen Fenstern und verschlang durstig mein Wasser. Mit meinem Portemonnaie ging ich zum Flügel. Unser Trainer sammelte die Beiträge ein. Für anderthalb Stunden 8 Euro. Montags für Anfänger und diejenigen die lieber am frühen Abend übten. Mein erstes halbes Jahr gehörte ich dazu.

Das war schon eine Weile her.

Heute war Donnerstag – Spättraining ab viertel Neun. Diese Zeit passte mir besser, so konnte ich mich nach meinem beruflichen Alltag für eine Stunde hinlegen und ausruhen, um dann umso fitter und konzentrierter beim Tanzen dabei zu sein.

Die Donnerstagsrunde war ein wilder Haufen von UnternehmerInnen, Angestellten, Arbeiter- und RenterInnen, einem Ehepaar. Sie alle steppten seit mindestens zehn Jahren und mehr.

Mit meinen gerade mal 43 Jahren war ich das Kücken unter ihnen. Vor über zwei Jahren hatte ich mit meiner Partnerin Yanna das Steppen angefangen, weswegen wir bei den komplizierten Schritten und Folgen noch immer unsere Schwierigkeiten hatten, sie korrekt auszuführen. Es war schön, auf diese Art und Weise unsere freie Zeit gemeinsam zu verbringen.

In der Pause tauschten wir Neuigkeiten aus. Klatsch aus den umliegenden Dörfern, genauso wie der aus der großen Welt.


„Was haltet ihr von der Diskussion um Heidi Klum?“, fragte Patrick in die Runde. Heute trug er seine mohnrote Pluderhose mit schwarzem Achselshirt.

Klar, er war modeinteressiert, doch auch an der Modelwelt?

Das wunderte mich.

„Welche meinst du?“, entgegnete Marika stirnrunzelnd, eine Dame Ende 50 mit flottem silbrigen Kurzhaarschnitt.

„Na, mit ihrem sehr viel jüngeren Mann.“

„Ach, du meinst den 30jährigen?“, fragte Ellen, 67 Jahre.

„Der heißt Kaulitz. Irgend so ein Sänger“, fiel Julie, 68 Jahre alt, ein.

Sie sprachen vom Leadsänger der Musikband TokioHotel.

„Und was jetzt für eine Diskussion?“

„Na, um den Altersunterschied. Das müsst ihr mitbekommen haben. Steht doch jeden Tag etwas darüber im Internet. In den Klatschspalten.“

„Also mir ist das schnurz“, bemerkte ich.

„Jeder nach seiner Fasson“, und ähnlich lauteten ringsum die Antworten.

„Die, die herummeckern, sind eh nur neidisch, dass sie keinen jüngeren Partner haben.“

„Ja, ich verstehe das auch nicht. Das muss doch jeder selber wissen. Übrigens Vera, ehe ich es vergesse, ich komme morgen in Begleitung.“

Entsetzt riss das morgige Geburtstagskind, das uns um einen Auftritt bei ihrer Feier gebeten hatte, die Augen auf und stützte die Arme an die Hüften.

„Das ist nicht dein Ernst, Patrick“, machte sie ihrem Ärger Luft. „Das sagst du mir jetzt. Ich bin froh, dass die Sitzordnung nach den vielen Absagen und Hin und Hers endlich feststeht und nun haust du es durcheinander?“

„Dann komme ich eben gar nicht.“

Trotzig verschränkte Patrick seine Arme.

Die anderen bestürmten Vera, die sprachlos ob der Absage war.

„Komm schon, sei flexibel.“

„Irgendwo wird sich sicherlich ein zusätzlicher Stuhl finden.“

„Du hast morgen den ganzen Tag noch Zeit, dass umzuorganisieren.“

„Ruf bei dem Veranstalter an. Das machen die schon.“

„Ja, ja, ist ja gut. Ich bekomme das hin“, wehrte sie den Ansturm ab.

Es siegte die Neugier über den neuen Freund von Patrick.

Seine letzte Partnerschaft, die immerhin sieben Jahre dauerte, ging vor einem halben Jahr auseinander.

Männliche Homosexuelle waren exotisch.

Waren interessant.

Sie zu kennen, rißen jeden aus der Gleichtönigkeit und machte uns bewußt, wie gewöhnlich durchschnittlich wir waren. Selbst Yamila und ich als Frauenpaar.

Patrick war fröhlich und bunt, trotzdem bodenständig. Sein Glanz färbte auf uns ab und ließ uns beschwingter durchs Leben gehen.

Ich wand mich meiner Nachbarin Marika zu und unterhielt mich mit ihr weiter über das Thema Klum und ihrer Sendung und stellten fest, dass wir sie beide nicht verfolgten und waren uns einig, dass man genügend in den Nachrichten mitbekam, um mitreden zu können, ohne Zeit in dieses Fernsehformat zu investieren.

„... Kräuterhexe“, hörte ich Patrick sagen.

„Wie bitte?“, fragte ich ihn.

„Ich bin eine Kräuterhexe.“

„Seit wann machst du beim Brocken-Tanzfestival mit?“

„Dort mache ich die Choreographie.“

„Das weiß ich“, winkte ich ab. „Du sagtest, du bist eine Kräuterhexe. Also dachte ich, du bist auch auf der Bühne zu sehen.“

Das hätte ich mir gern angeschaut. Wenn er als Schauspieler genauso gut war, wie als Tänzer, konnte gar nichts schief gehen.

„Nein, nein“, schüttelte Patrick lachend seinen Kopf. „Ich habe viele Kräuter an meinem Haus. Daher die Kräuterhexe.“

„Achso.“

„Mitte Dreißig“, weiter mir zugewandt und ich dankte ihm insgeheim für die Blumen. „musst du anfangen, dich wöchentlich mit Zitronensaft einzureiben, um gegen Altersflecken vorzubeugen.“

Er zeigte uns seine gebräunten Arme, die außer etwas Altersrunzligkeit keinen Makel aufwiesen.

Tja, was soll ich dazu sagen. Seitdem richte ich mir ein mittwöchliches Abendzitronenritual für meine Haut ein.

Zehn Minuten später hallten unsere Schläge durch den Raum.

Nur weil ein Trainer zum alten Eisen gehörte, hieß das noch lange nicht, dass wir Schritte schludrig ausführen durften. Oh nein, Präzession war angesagt.

Bis jedes Detail saß.


Am nächsten Abend sollten wir uns erst gegen 21 Uhr in der Location einfinden. Da Yamila und ich mit Vera, anders als die anderen Ensemblemitglieder nicht privat befreundet waren, gehörten wir nicht zur Geburtstagsgesellschaft und waren einzig für den Auftritt erschienen.

Im Ballsaal erwartete uns eine buntgewürfelte Gesellschaft von älteren Tanten, ergrauten Großvätern, Cousins, Freunden, Schwestern, Töchtern, Schwiegersöhnen, blutjungen Enkeln und quirligen Urenkelinnen, die sich munter im ganzen Raum verteilt in kleinen Gruppen unterhielten, während eine Liveband für die musikalische Umrahmung sorgte.

Zum Siebzigsten Geburtstag hatten wir uns selbstverständlich schick gemacht. In die Kostüme würden wir später schlüpfen. Ganze zwei Tische waren für unsere Tanzgruppe reserviert, fast alle wurden von ihren Männern und Frauen begleitet.

Zunächst richtete ich meine Aufmerksamkeit dorthin, meine Begrüßungsrunde mit den mir bekannten Gesichter beginnend, ehe ich weiter durch den Saal schlenderte.

Das Buffett von allerlei Leckereien übervoll beladen, als hätte keiner der Gäste sich nicht bereits den Magen vollgeschlagen. Der Schokoladenduft des Früchtefondues wehte köstlich zu mir herüber. Die runden linnenbedeckten Tische waren vereinzelt noch mit feinstem Porzellan, Silberbesteck und Kristallglas geschmückt, auf jedem stand ein opulenter Strauß in ringelblumenorange und sonnenblumengelb. Damit war Veras zweite Leidenschaft neben dem Stepptanz auch dem Letzten klar.

Sie nannte einen Garten ihr eigen und werkelte leidenschaftlich gern darin herum. Deshalb schenkte ich ihr aus unserer Gärtnerei einen Rittersporn, dessen leuchtenden Rispenblüten in seinem feingliedrigen Grün bestens zur Geltung kamen, und Jamila praktisches Werkzeug dazu.

Sichtlich erfreut nahm sie die Gärtnertasche und die Staude entgegen, murmelte etwas von „kann ich meine die im Winter erfroren ist, ersetzen“ und lud uns herzlich ein, Platz zu nehmen, uns etwas zu trinken zu bestellen und mitzufeiern. Unser Auftritt wäre erst sehr viel später, es käme noch eine Überraschung.

Einige der Gäste, immerhin waren diese seit 14 Uhr hier, waren bereits gegangen, so dass das Stuhlproblem keines mehr war. Und von einer Sitzordnung genauso wenig die Rede sein konnte.


Keine viertel Stunde später bat uns Vera alle hinaus auf das parkähnliche Gelände mit der großen Wiese. Die Abenddämmerung schlich sich in den Tag, die Beleuchtung war bereits eingeschaltet. Der türkisblaue Himmel läutete die BlueHour ein. Auf einem der Wege stand ein Kleintransporter, davor Vater und Tochter jeweils einen Greifvogel haltend.

Schon dieses gebotene Bild war beeindruckend.

„Einen wunderschönen guten Abend“, begrüßte der Meister seine Zuschauer. „Kommen Sie näher, kommen Sie heran.“

Brav wie die Lemminge folgten alle der Aufforderung.

Dann bot sich uns ein Schauspiel, wie ich es aus dieser Nähe noch nie erlebt hatte.

Ein Show par excellence, mit Tieren die bei den Störtebeker Festspielen in Ralswiek auf Rügen die Stars waren, wie uns ihr Besitzer stolz berichtete. Wir bekamen einen jungen Weißkopfseeadler zu Gesicht, mehrere Falken, eine sibirische Irgendwas-Eule, die Hedwig aus den Harry Potter Filmen alle Ehre machte und deren zartweiches Gefieder wir streicheln durften, und einen heimischen Waldkauz, der im Verhältnis winzig wie eine Maus wirkte.

Einige legten eine Luftehrenrunde ein, scheuchten damit die einheimischen Vögel in den hohen Linden ringsum aus ihren Nestern auf oder ließen uns respektvoll ducken.

Schimpfend wie ein Rohrspatz schoß eine Drossel über unsere Köpfe.

„So eine Schweinerei!“, rief Patrick im nächsten Moment dem Vogtner zu. „Können Sie Ihre Tiere nicht im Zaum halten?“

Der schaute verwundert zu ihm, den letzten seiner Schützlinge seit einigen Minuten auf der Hand haltend: „Was meinen Sie?“

Ellen quieckte: „Iiiiihhh!“

Ihr Partner daneben: „Das gibt es doch nicht.“

Patrick zeterte mit der Drossel im Einklang wie ein altes Waschweib auf einem mittelalterlichen Marktplatz, lies sich nicht beschwichtigen und stürmte hinein.

Für den Moment wusste die Mehrzahl der Umherstehenden, ich eingeschlossen, nicht was passiert war. Dann sahen wir die Bescherung. Besagte Drossel hatte sich wortwörtlich vor Angst in die Hose gemacht. Mangels Hose - nun ja, ich glaube weiterer Worte bedarf es nicht.

Die drei Darunterstehenden hatte es erwischt. Während Ellen und ihr Mann es mit Humor nahmen und bald ihre Witze darüber rissen, dass sie in nächster Zeit unbedingt Lotto spielen sollten, blieb Patrick in den Toilettenräumen verschwunden.

Dementsprechend kreisten die Unterhaltungen eine Zeit lang um dieses eine Thema. Und unseren Trainer.

„Entweder man akzeptiert ihn so wie er ist oder lässt es eben bleiben.“

„Ich zolle Rico großen Respekt, dass er ihm nicht hinterherdackelt.“

„Du hast recht, es tut Patrick gut, dass er von ihm nicht betütelt wird.“

„Ja, er feixte neben uns“, antwortet Ellen noch mit Lachtränen in ihren Augen. „Hat sich nicht mehr eingekriegt und Patrick gesagt, dass es nun einmal passiert ist und es als Schicksal hinnehmen soll. Mit wenig Erfolg allerdings.“

Rico, der neue Freund von Patrick also. Noch hatte ich ihn nicht kennengelernt. Muss ja ein feiner Kerl sein, mit dem Mann auch Pferde stehlen könnte.

Dann verschwanden wir zu unserem Umkleideraum, wo wir Patrick schmollend vorfanden. Arme trotzig verschränkt und in sein Sakko gehüllt.

Während ein paar Luft holten, um zum Reden anzusetzen, hob er abwehrend seine Hände: „Kein Wort will ich hören. Lasst mich in Ruhe.“

Sein schwarzes Hemd war in der Mülltonne gelandet. Seinen Hut hatte er in eine Ecke gepfeffert. Selbst sein Paisley-Einstecktuch war seiner Wut zum Opfer gefallen.

Es klopfte.

Die Dame des Hauses brachte ein frisches Hemd. Sie meinte es gut, wurde allerdings mit Verachtung gestraft. Die Karos passten nicht zu ihm.

Sein Outfit war futsch.

Seine sonst gute Laune dahin.

„Manchmal bekomme ich eben nicht mehr das was ich will“, murrte er.

„Ich hätte dich nach Hause gefahren, damit du dich umziehen kannst.“

„Da wäre ich nicht wieder mitgekommen, sondern zu Hause geblieben.“

„Okaaay.“

Jetzt ließen wir ihn in Ruhe und kümmerten uns um uns. Haare hochstecken, in Form gelen, schminken.

Das geschäftige Treiben beruhigte ihn und er löste seine verkrampfte Haltung.

„Ihr tretet ohne mich auf. Mit freiem Oberkörper präsentiere ich mich nicht vor den Leuten.“

Wir wussten, jeder Kommentar war zwecklos.

Ihm zuliebe würden wir unser Bestes geben. Er hatte uns ausgezeichnet vorbereitet, Vera mittendrin.

Unsere mit Glanzfäden durchzogenen indigoblauen Kostüme gaben der Veranstaltung einen Glamour wie einst die Broadwaybühnen New Yorks, passender Zylinder und Gehstöckchen inklusive.

Patrick beobachtete uns mit zusammengekniffenen Falkenaugen und prompt machte ich (glücklicherweise in der letzten Reihe) einen falschen Schritt.

Dabei dachte ich an die erste Showregel: lächeln und nochmals lächeln. Einfach weglächeln und improvisieren, als würde es zum Ablauf gehören.

Den Zuschauern entfiel dieser Schnitzer und andere Fehler und gaben uns und vor allem Vera frenetischen Beifall.

Selbst Patrick lobte unseren Auftritt und wir waren froh drum, sonst wäre der restliche Abend zur Katastrophe geraten.

Zurück in unseren Partyklamotten, setzten wir uns alle erst einmal und stießen auf den gelungen Auftritt und auf Veras Freudentag insbesondere an. Dann forderte die Liveband uns musikalisch auf, unsere Tanzbeine weiterzuschwingen und diesen Gefallen taten wir ihnen bis weit nach Mitternacht.

Es war eine schöne Feier und durch die aufregenden gewissen Ereignisse werde ich sie bis ans Ende meiner Tage in Erinnerung behalten.

Mit perlenden Lachen verließen wir die Feierlichkeiten, mittlerweile gelang es auch Patrick wieder.

Draussen herrschte eine nachtviolette Stimmung und zum Schluss von allen verabschiedete ich mich von Rico, mit dem ich die gesamte Zeit über keine einziges Wort hatte wechseln können: „Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits“, antwortete lächelnd der Anfangdreißiger, stolz neben seiner glückstrahlenden besseren Hälfte Patrick.

Ein kleines Schmunzeln konnte ich mir bei seiner Weitsicht nicht verkneifen.

Seine dritte Revolution.

Liebe und Frieden im Goldtopf am Ende seines Regenbogens.

Würde Patrick jeden Tag auf sein Alter achten, wäre er nicht jung geblieben.

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Signum der Autorin Yvonne Beetz
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